Dr. Uwe Degreif, Biberach
03.06.22
Ich würde gerne mit einem Zitat der Künstlerin beginnen. Über ihre Arbeit sagte sie: „Ich beschäftige mich oft mit der Frage: Wie viel muss getan werden, damit ein Motiv erkannt werden kann? Wann hört der Ton auf, ein formloser Klumpen zu sein? Ich ergründe bildhauerische Problem, z.B. wie kann man Bewegung in einer Skulptur zeigen oder wie kann man die Empfindlichkeit und die Stärke einer organischen Form zeigen? Ich sehe meine Arbeit als einen produktiven und poetischen Kampf mit dem schweren Tonmaterial.“
In diesen Sätzen spricht die Künstlerin eine Reihe von bildnerischen Fragestellungen an, z.B. ab welchem Moment des Arbeitens mit dem Material sich ihr die angestrebte Form zeigt, ab wann wir Betrachter und Betrachterinnen etwas erkennen können, wodurch wird der Eindruck von Bewegung erzeugt. Aber auch: Wie kann sie einer Empfindung Ausdruck verleihen? Erkennen, Bewegung, Empfindungen sind also wichtige Aspekte ihres Schaffens. Und es kommt ein weiterer hinzu – der historische Bezug, den die Künstlerin in vielen Werken herstellt.
1. Erkennen:
Ich vermute, der allererste Eindruck der meisten von uns war mit der Frage verbunden: Ist das Werk fertig oder nicht? Treffe ich auf etwas, das sich im Moment des Auflösens befindet oder im Moment des Entstehens? Wachsen oder Zerfall? Einige Arbeiten scheinen an einem Punkt angelangt zu sein, an dem eine Stabilisierung erforderlich ist; Stäbe, Stangen sollen wie eine Eisenbewehrung beim Stahlbeton dem Acrylharz Stabilität verleihen. Werden die Stangen noch entfernt oder bleiben es Stützen? Einzelne Stellen sind stärker ausgearbeitet als andere. Die geschlossene Form wird an vielen Stellen aufgebrochen, stellenweise scheint sie sogar geschmolzen oder wie zerfleddert. Der Eindruck des Übergangs ist vorherrschend. Bei keiner Skulptur gibt es das, was man als ‚eindeutig‘ bezeichnen könnte. Was wir sehen, das ist zugleich vollendet und unvollendet.
Lucy Teasdales Skulpturen sind nicht abstrahiert. Abstrahiert wäre sie, wenn die Künstlerin vom Abbild ausginge und dieses dann in eine vereinfachende Gestalt überführte. Also das Konkrete verlassen und sich dem Elementaren zuwendete. Bei Teasdale vollzieht sich eher ein entgegengesetzter Prozess: auf den ersten Blick zeigt sich das Unklare, Unbestimmte, auch Verwirrende und man nähert sich dann schrittweise dem Konkreten an, beginnt zu entdecken. Unsere Fantasie ergänzt und vervollständigt an vielen Stellen das Werk, unsere Vorstellung macht es konkret, Schritt um Schritt wird es präziser.
2. Empfindung:
In meiner Wahrnehmung ist der Entstehungsprozess ein langsamer. Ich weiß nicht, wie genau Lucy Teasdale ihr Ziel kennt, wie konkret die Idee für eine Skulptur bereits am Beginn des Schaffensprozesses ist, doch nehme ich an, die Gesamterscheinung verändert sich beim Zusammensetzen der einzelnen Tonklumpen sehr stark. Damit wird Spontaneität zu einem wichtigen Faktor. Teasdales Arbeiten zeigen sich mir als eine Kombination aus Langsamkeit und Spontaneität. Sie könnten sich in unterschiedliche Richtungen entwickeln.
Welche Emotionen lassen sich ausmachen? Ich kann Tänzer erkennen, die sich ganz in eine Drehung hineinbegeben. Ich kann Pferde und Reiter erkennen, flatternde Schwäne, auf- und absteigende Kämpfer – manche mit weit ausholenden Gesten, einige sich aufbäumend, sich gegenseitig aufschaukelnd. Manche sehen sich in die Enge getrieben oder eingezwängt, andere schultern Lasten. Dieses Erleben umfasst auch Absturz und Zusammenbruch. Die meisten äußern starke Gefühle, die wenigsten befinden sich in einem Moment des Entspannens oder Ruhens.
3. Bewegung:
Der Eindruck von Bewegung ist bekanntlich nicht real, sondern beruht auf einer Illusion. Wir meinen eine Bewegung wahrzunehmen, vergleichbar dem Raum in einem Gemälde, der ja auch nur eine malerische Illusion ist. In Wirklichkeit sehen wir Stillstand und den Moment zwischen zwei Bewegungsphasen. Lucy Teasdale hebt diesen unvermeidlichen Eindruck von Stillstand in, wie ich finde, unglaublicher Vielfalt auf. Bspw. in dem sie eine Bewegung in mehrere Phasen zerlegt und hintereinander setzt. Oder indem sie Tanzpaare sich nebeneinander wie kleine Puppen drehen lässt. Oder indem sie einen Bewegungsverlauf als Bogen darstellt und so unseren Blick von einer Seite zur anderen führt. Oder indem sie die Skulptur spiralförmig anordnet und sich um die eigene Achse drehen lässt. Oder indem sie die Dynamik auf verschiedene Ebenen verteilt und von unten nach oben wachsen lässt. Bei manchen Skulpturen stellt sich der Eindruck von Bewegung über einen Wechsel von Stabilität und Instabilität ein, wie bspw. bei der Wippe. Bei einigen schafft der Eindruck von etwas Unfertigem die Vorstellung von etwas Fließendem oder sich kaskadenartig Ergießendem. In allen Skulpturen dominiert der Eindruck von Veränderung. Der Eindruck von Dynamik wird auch dadurch hervorgerufen, dass wir uns selbst um die Skulptur herumbewegen und mehrere Richtungsänderungen wahrnehmen.
4. Zeitbezug:
Einige Werke haben etwas Verwunschenes, Märchenhaftes. Andere schaffen Bezüge zum Historischen, etwa zum Historismus des späten 19. Jahrhundert, der uns heute etwas dekadent erscheint. Historische Formen tauchen mehrfach auf, Kostüme, eine Wippe, manche Stäbe erscheinen wie Lanzen bei einem mittelalterlichen Reitergefechten. Fast jede Skulptur enthält etwas aus einer vergangenen Zeit. Zudem gibt es Bezugnahmen zum Sport. Das Pferd verbindet den Bereich des Historischen mit dem des Sports. In Verbindung mit einem Sockel verweist ein Pferd auf die Tradition des Reiterstandbildes und damit auf die Tradition des Herrscherbildes. Was kommt auf den Sockel, was muss ihn verlassen? Endlich oben ankommen oder schon wieder hinuntersteigen? Um Sieger und Verlierer drehen sich viele von Teasdales Skulpturen.
Manche Skulptur weckt die Vorstellung, sie stünde im Zusammenhang mit einem konkreten historischen Ereignis, ohne dass einem dieses Ereignis offensichtlich wird. Manchmal gibt es über den Titel einen Anhaltspunkt. Die Verbindung von Figuren und Kampf scheint ein Erinnern an etwas geschichtlich Bedeutendes nahezulegen.
In welcher Tradition stehen ihre Arbeiten? Im weitesten Sinne in der des Impressionismus. Warum? Weil die Spuren der Bearbeitung vollständig sichtbar sind. Es gibt viele Kerbungen und Eindruckstellen und damit viele Licht- und Schattenstellen auf der Oberfläche. Der Eindruck des Momenthaften dominiert. Teasdale verdichtet nicht sehr stark, sie schafft keine kompakten Massen, ihre Skulpturen sind stets durchsichtig, schließen sich nicht gegen den Umraum ab.
Meine abschließende Bemerkung: Die Künstlerin wäre kaum dafür geeignet ein Denkmal zu schaffen. Um ein Denkmal zu erschaffen braucht es das Ideale, braucht es den Willen zur Überhöhung. Die Botschaft von Denkmälern an uns ist es dem Vorbildlichen nachzueifern. Die Skulpturen von Lucy Teasdale tragen jedoch nicht die Gewissheit des Gelingens und des Sieges in sich. Hingegen wäre Lucy Teasdale sehr dafür geeignet ein Mahnmal zu gestalten, denn das Moment des Scheiterns und des Niedergangs ist in vielen ihrer Skulpturen enthalten. Ein Mahnmal rückt die Folgen in den Blick, es zeigt das mit dem Kampf verbundene Leid, veranschaulicht Zerstörung und Trauer.